In Westdeutschland ist die Kirche zumindst bis zur Jahrtausendwende so selbstverständlich Teil der Sozialisation, dass die meisten Menschen sie einfach für selbstverständlich halten. Kirche ist da. Es gibt schließlich die Gebäude vor Ort, das flächendeckende Pastorat, Sonntagsgottesdienste und Gemeindegruppen, konfessionellen Religionsunterricht und seit 70 Jahren das Wort zum Sonntag im Fernsehen. Man kann sie nutzen, teilhaben oder sich abgrenzen, aber man muss sie nicht machen oder bauen.
Für sehr viele Menschen ist es deshalb ein neuer Gedanke, dass Kirche nicht besteht, sondern sich ereignen muss, wenn es sie geben soll. Und es lohnt sich, diesem Gedanken neu nachzugehen.
Ist Kirche wichtig oder kann die weg?
Stell dir Deutschland ohne Kirche vor. Die Skeptiker gegen alles, was Naturwissenschaft nicht messen kann, werden nichts vermissen. Die Menschen, die leidvolle Erfahhrungen in der Kirche gemacht haben, werden vielleicht Erleichterung empfinden. Aber diejenigen, die hemmungslos die Menschen auf ihr Potential als Kunden reduzieren, werden jubeln.
Ja, es gibt gute Gründe gegen eine organisierte Kirche des öffentlichen Rechts, aber auch gute dafür. Die Gesellschaft ist kein wertefreier Raum. Es reicht nicht gegen etwas zu sein, wir müssen auch für etwas sein und tun, sonst kann es sich nicht ereignen.
Die evangelische Kirche repräsentiert keine abstrakte Autorität oder Macht, sie organisiert Gemeinschaft und Mitbestimmung. Das mag im Mittelalter anders gewesen sein. Und das war auch in den 50ziger Jahren des letzten Jahhunderts anders, wo der Arzt und Apotheker, der Lehrer und Pfarrer, der Polizist und Politiker, der Bauer und Unternehmer … wo Menschen in bestimmten Positionen unhinterfragt und manchmal wider besseres Wissen Respekt erwiesen wurde. Heute schlägt das Pendel zur anderen Seite aus und Menschen wird trotz besserem Wissen Respekt verweigert. Oft reicht der diffuse Begriff “die da oben” oder einfach nur “die da”, um Menschen zu diskreditieren. Aufgrund vieler Gespräche und Diskussionen bin ich zu dem Eindruck gekommen, genau dieses Gefühl nutzen Menschen an den politischen Rändern bewusst aus. Angeblich setzen sie sich für Gerechtigkeit, Wahrheit und Freiheit ein, angeblich kämpfen sie gegen die Unterdrückung durch politische Gegner und auch durch die Kirche. Tatsächlich wollen diese Menschen, die losgelöst von tatsächlichen Erfahrungen gegen Kirche polemisieren, nur die Konkurrenz loswerden, wollen ihre eigenen Interessen durchzusetzen, ihre eigenen Wahheiten legitimieren oder sich selbst nur von allen Skruppeln befreien.
Kritik an der Kirche und in der Kirche muss sein. Das gilt aber auch für die Kritiker und für die Verächter der Kirche. Auch sie müssen sich, ihre Motive und Absichten hinterfragen lassen. Für mich ist die Befreitschaft und Fähigkeit zur Selbstkritik ein Gradmesser für die Seriösität und Glaubwürdigkeit von Menschen und Organisationen.
Würde es keine Kirche geben, würde ein Raum für den freien Diskurs fehlen, das Ringen um Wertschätzung und Mitbestimmung, die Fürsprache und Fürsorge für Benachteiligte und eine Botschafterin des Evangeliums. Kirche ist nicht der Himmel auf Erden – auch in der Kirche gibt Fehlverhalten, auch Christen bleiben hinter ihren Ansprüchen zurück, müssen sich am Evangelium messen lassen – Kirche weist auf den Himmel hin, richtet sich am Evangelium, am Himmel, an Gott aus. Und zwar durch die Menschen, durch die sich Kirche ereignet.
Wenn Kirche sein soll – dann muss sie sich ereignen.
Wenn wir Kirche nicht als Gebäude denken oder als Institution, als Verwaltungsbezirk oder Veranstaltung, wenn wir Kirche als die Menschen denken, die sich vom Evangelium, vom Himmel, von Gott inspirieren lassen, dann verändert sich etwas.
Wir schauen dann nicht auf die äußere Form, sondern die inneren Beweggründe.
Auch dieser Gedanke ist nicht neu. Schon der 1 Petrusbrief (Kap 2, Vers 5) spricht von der Kirche, die von den Gemeindemitgliedern als den “lebendigen Steinen” erbaut ist. Und die Mitarbeitende in den Kirchengemeinden heute leben diese Haltung, dass Kirche durch gemeinsames Beten und Handeln wirklich wird.
In der Zeit des Umbruchs und des Beudeutungsrückgangs der institutionalisierten Kirche wird es uns helfen, diesen alten Gedanken aufs Neue zu denken: Kirche entsteht durch die Menschen, die sich von Gottes Geistkraft inspirieren und bewegen lassen, die vor seinem Wind segeln und gegen den Zeitgeist der Kirchenverachtung kreuzen.
Abschied vom PfarrerInnenbild
Ein notwendiger Schritt dabei ist es, endlich die PfarrerInnenzentrierung zu überwinden. Bislang ringen viele aktive Gemeindeglieder darum, möglichst viel Pfarrstellenanteile in ihrer Gemeinde zu halten. Das ist ein großer Vertrauensbeweis und ein Hinweis auf die Bedeutung, die die PfarrerInnen für die aktiven Gemeindeglieder haben. Danke! Von Herzen sage ich Danke dafür, da ich ja selbst Pastor und Pfarrer bin und aus der Wertschätzung, die mir entgegengebracht wird, sehr viel Kraft und Motivation gewinne.
Wenn aber die pastorale Begleitung durch TheologInnen nicht mehr flächendeckend in jeder Parochie einzeln realisiert werden kann, muss das kein systemischer Verlust sein. Es kann uns allen gemeinsam gut tun, die Beziehungsarbeit zwischen den Gemeindegliedern neu zu würdigen, PfarrerInnen – und nicht nur die – von administrativen Aufgaben zu entbinden und ihre Kompetenzen in einem interprofessionellen Team für Netzwerkarbeit und als Multiplikatoren wirksam einzusetzen.
Noch ist es geltendes Recht in der lippischen Landeskirche, dass PfarrerInnen den Vorsitz im Kirchenvorstand jeder selbstständigen Kirchengemeinde übernehmen müssen, für den sie einen Stellenanteil haben, wenn sich kein ehrenamtliches Kirchenvorstandsmitglied dafür findet. Es wäre besser, in diesem Fall eine Kooperation gesetzlich vorzusehen.
Das hieße aber auch, die Verwaltungsarbeit so effizient zu gestalten und mit dem Sekretariat zu unterstützen, dass Ehrenamtliche mit diesen Aufgaben nicht überfordert werden. Aber wenn ehrenamtlich Mitarbeitende durch Verwaltungsarbeit überlastet sind, dann gilt das in der Regel auch für TheologInnen, die dafür nicht ausgebildet sind, und deren Zeit- und Kompetenzressourcen für die Begleitung der Mitarbeitenden besser genutzt werden.
Du bist Kirche, aber nicht die Ganze.
Dieser Satz will sowohl die Bedeutung jedes einzelnen Christen betonen und relativieren – also in Beziehung setzen. Der Gedanke, dass Kirche sich als Schwarm ereignet und in Profilgemeinden Anlegenstellen organisiert, würdigt die Individualität aller Christen je für sich und setzt uns in Beziehung. Er nimmt den Fokus weg von der gewohnten Präsenz der Institution und lenkt ihn hin zu dem Wirken Gottes in, unter und zwischen uns.
Er kann uns dazu inspirieren, Kirche neu zu denken und zu leben. Damit wir an den Herausforderungen unserer Zeit nicht zerbrechen, sondern sie mit Zuversicht anpacken.
Und immer wieder habe ich dabei die Zusage Gottes im Ohr: “Geh heraus aus deinen gewohnten Strukturen und Sicherheiten in eine Zukunft, die ich mit dir gestalten werde, spricht Gott.” Die Bibel: 1 Mose 12, 1