Kirche neu denken

Kirche verändert sich – und das bedeutet viele Herausforderungen. In dem Artikel “Transformation der Kirche” habe ich versucht, diese Herausforderung konstruktiv zu betrachten und das Bild der Kirche als Schwarm von Optimisten beschrieben. Wenn wir dies Bild weiterdenken, wäre es schön, sich nicht nur auf dem offenen Meer zu treffen, sondern kleine Anlegestellen oder Häfen zu bauen. Kirchliche Orte also so auszustatten, dass Schiffe dort gerne Station machen und einen Ankerplatz finden. Wie könnte solch ein Bild konkret werden?

Vorüberlegungen

Das klassische Bild von Kirche ist auch in Lippe die Ortsgemeinde. Unsere Landeskirche ist überwiegend “parochial” organisiert. Parochie, das bedeutet die “rechtlich und organisatorisch abgegrenzte Gemeinschaft von Gläubigen in der Kirche, der ein Pfarrer vorsteht” (wiktionary). Dabei ging es um die flächendeckende Versorgung des Volkes, damit jedes Gemeindemitglied weiß, welcher Amtsträger für es zuständig ist. Nicht nur PfarrerInnen auch sehr viele hochverbundene lieben dieses Prinzip. Es ist bewährt und könnte zum Beispiel durch gezielte Kooperation (vgl. diesen Artikel) stabilisiert werden. Aber es gibt auch Alternativen.

Es gibt zum Beispiel Citykirchen, als soziale Treffpunkte, Kulturkirchen mit speziellem Angebot, Jugendkirchen für Zielgruppenarbeit – aber zumeist nur in größeren Städten. Sie gehen zurück auf die Idee der “Ladenkirche“, die der Theologe und Pfarrer Ernst Lange schon 1960 aus New York nach Berlin mitbrachte.
Auch in den letzten Jahren gab es immer wieder Initiativen und Projekte, Kirche an anderen Orten zum Beispiel am Arbeitsplatz oder in sozialen Einrichtungen, auf Campingplätzen oder an Heilorten zu leben. Sie sind Kristalisationspunkte an denen Kirche auf Zeit entsteht für Menschen, die dort für kurze oder auch lange Zeit einen Ankerplatz finden.

Diese Formen der Kirche haben eine sehr lange Tradition und wurden ebenso lange misstrauisch betrachtet. Vielleicht ändert sich das jetzt, wo das Primat der parochialen Ortsgemeinden schwindet. Könnten sie nicht auch für Gemeindeglieder, die ihren Kirchturm am Ort lieben, weil sie dort eine Geschichte haben und sich beheimatet fühlen, attraktiv sein?

Loslassen, damit wir Neues anpacken können

Wenn wir nicht nur biografisch auf die guten Erfahrungen in Ortsgemeinden schauen, sondern sie auch auf die Umstände befragen, wie das Heilige dort konkret erfarbar wurde, könnten wir vielleicht leichter beschreiben, wie Kirche auch an neuen Orten sein kann.

Das unbedingte Festhalten an der Organisationsform der pariochialen Flächenkirche mit Pfarrstellenanteilen bringt zunehmend frustrierende Erfahrungen der Ausdünnung mit sich. Manches Loslassen könnte sehr entlastend und belebend wirken, insbesondere wenn es mit neuen Aufbrüchen verbunden werden kann.

Je nach den guten Vorbedingungen in den einzelnen Ortsgemeinden bieten sich unterschiedliche Ausformungen von kleinen Anlegestellen oder ganzen Hafenanlagen für Kirche als Schwarm von Optimisten und Ankerplatz für Hausboote, Fischkutter, Segeljachten und andere Bootsklassen an.

Delegieren, damit wir niemand einzeln überfordern

Dafür braucht es die Delegation der klassischen Aufgaben von Parochialkirche als Körperschaften des öffentlichen Rechtes an Großgemeinden bzw. Gemeindekooperationen und den Mut sich vor Ort auf ein Handlungsfeld zu konzentrieren.

Das bedeutet den Gedanken loslassen, das die Ortsgemeinde mit ihren lokalen Kräften autonom sein und Vollversorgung anbieten müsse. Sie muss aber auch nicht unselbständiges Anhängsel einer Zentralkirche werden.
Ortsgemeinde kann sich innerhalb einer öffentlich rechtlichen Kirchenstruktur vernetzen und Aufgaben koordinieren und dann vor Ort individuell und prägnante Anlegestelle für ChristInnenboote sein und diese dabei unterstützen einzeln und als Schwarm in dieser Welt zu wirken.

Konkretisieren, damit wir ausstrahlen

Vor Ort kann ein profiliertes Handlungsfeld eine Kunst- und Konzertkirche, ein Credoweg-Erlebnispark, ein Kirchenzentrum Kindergarten, ein Kirchencafe mit Mittagstisch, ein Wohnprojekt für Senioren, eine fokusierte Zusammenarbeit mit einer Klinik … und vieles andere sein.
Dieser Ansatz ist alles andere als neu. Ich möchte aber aus aktuellem Anlass einige Ideen dazu ausformulieren. Nur Ideen und sehr bewusst als kreativen Impuls für diejenigen, die in ihrer Gemeinde an einem Gemeindeentwicklungskonzept arbeiten oder arbeiten wollen.

Weichenstellung

Dieses Bild stammt von einer KI-Software – wurde also mit künstlicher Intelligenz bzw einem Algorithmus erstellt, der aus Text ein Bild gestaltet. Die Arbeitsanweisung lautete:
“Eine Schiene mit einer Weiche, von der zwei Schienen weitergehen und in die Ferne führen.” Das Ergebnis ist “holperig”. Aber genau das finde ich ehrlich und angemessen. Veränderungsprozesse sind nicht einfach und nicht mit einer Stellschraube an einer Weiche zu managen. Die Weiche muss erst gebaut und auch die weiterführenden Schienen gelegt werden. Aber wenn wir heute nichts tun, dann führt der Weg nicht einfach weiter, sondern werden wir entgleisen. Und das ist absehbar.

Was wir heute brauchen ist der Mut, nicht nur zurückzuschauen, wie Kirche die letzten Jahre war, sondern sich heute zeigt, und nicht zu beschreiben, was noch geht, sondern was vor uns liegt. Und wir wissen sehr genau, vor uns liegen Schwierigkeiten – aber nicht nur.
Nach einer ehrlichen Analyse der guten Erfahrungen und aller daraus erwachsenen Schätze, nach einer genauso ehrlichen Zusammenstellung aller Aufgaben und Überforderungen, könnten wir einmal den Blick in die Ferne richten, wo es uns heute neu hinzieht.
Das Morgen wird sich nicht einfach aus dem Gestern entwickeln. Wir leben in einer Zeit des Umbruchs. Unsere Zeit ist nicht die Zeit der treuen Gleisbettpflege, sondern des Weichen- und Schienenneubaus. Der Ist-Zustand mag sich so verworren dastellen wie das Bild der KI. Aber wenn wir einmal innehalten und den Blick heben, können wir die Richtung und ein Ziel festlegen und dann am neuen Gleisbett und den Schienen arbeiten.

Und nun möchte ich das Schienen-Gleichnis wieder verlassen und zum Bild der Kirchenschiffe zurückkommen, die als Schwarm unterwegs sind und Ankerplätze brauchen.

Ortsgemeinde als Anlegestelle oder Hafenanlage …

… für Optimistenboote und andere Schiffsformen.

Wenn der Heilige Geist, die Ruach Gottes, eine Möwe wäre, welche Ankerplätze würde sie gerne besuchen? Ich habe schon die Kunst- und Konzertkirche, den Credoweg-Erlebnispark, das Kirchenzentrum Kindergarten, das Kirchencafe mit Mittagstisch, das Wohnprojekt für Senioren und ein Beratungszentrum in oder an einer Klinik … als Impulse genannt und möchte davon zwei ausführen.

Anlegestelle
Kirchcafe mit Restaurant

Tischgemeinschaft ist ein Urbild, wie Jesus Menschen zu einer neuen Gemeinschaft verbindet. Die Speisung der Fünftausend, das Gastmahl beim Zöllner, die Hochzeit zu Kanaan und auch das Abendmahl … Jesus versammelt Menschen nicht nur an runden Tischen, sondern zum gemeinsamen Essen.

Seniorenkaffeetrinken, Kirchkaffee und Gemeindefeste – wir treffen uns in unseren Gemeindehäusern zum Essen. Das Tischgebet und das Gespräch am Tisch, eine Andacht oder Impuls, gemeinsam Singen – Essen und Trinken verbindet und kann Leib und Seele nähren. Wenn aus der Teeküche im Gemeindehaus eine richtige Küche wird, in der Haupt- und Ehrenamtliche zusammen kochen und Menschen zum Essen und als Treffpunkt eingeladen sind, könnte das sehr gut tun. Auf der Speisekarte kann auch Seelennahrung stehen und die Tischmusik kommt von Posaunen, Chören, Klavier- und Geigespielenden. KonfirmandInnen werden Teamer. Jedes Essen wird zum kleinen Gottesdienst und natürlich können sich abends auch andere Gruppen im Speisesaal treffen.

Der Kindergarten kommt um 12:00 Uhr in den Raum mit den kleinen Tischen und Großeltern essen an großen Stühlen mit. Gemeindeglieder können einen Stammplatz vorbestellen oder spontan dazukommen, Ausflugsgruppen eine Tischgruppe und Familien auch ein Abendbrot reservieren und im Sommer gibt es auf der Terasse Saftschorle, Wein und Bier.

Wenn du deine Ortsgemeinde als Kirchcafe mit Mittagstisch denkst:
Was würde sich für dich und deine Kirchengemeinde verschlechtern und was verbessern? Welche Aufgaben müsstes du bewußt lassen bzw. delegieren und an wen? Welche Kompetenzen müssen neu erworben und gepflegt werden?

Hafenanlage
Kirchenzentrum Kindergarten

Ich stelle mir zum Beispiel vor, einen evangelischen Kindergarten zu einem Kirchenzentrum als Hafenanlage weiter zu entwickeln und zu gestalten.

Evangelische Tageseinrichtungen für Kinder sind ja kirchliche Orte, in denen Glaube gelebt, biblische Geschichten erzählt, gesungen, gebetet wird. Einige Tageseinrichtungen sind auch zertifizierte Familienzentren und dann Kontaktstelle für Familien mit generationsübergreifenden Beratungsangeboten, Bildungsveranstaltungen und Quartiersarbeit. Die Weiterentwicklung zu einem Kirchenzentrum wäre ein organischer Schritt mit Synergieeffekten, wie der Nutzung von Infrastruktur und Mehrzweckräumen abends und am Wochenende für Gemeindegruppen und Gottesdienste aber auch zur Profilierung der Gemeinde.

Es würde ja nicht nur darum gehen, Räume gemeinsam zu nutzen, sondern als Kirchengemeinde vor Ort sich auf einen Arbeitsschwerpunkt zu konzentrieren. Auch ein Kirchenzentrum Kindergarten kann Treffpunkt für Gemeindegruppen und Gottesdienstort im Kirchenjahr und für Taufen sein. Aber die Zusammenarbeit kann eben auch die Gemeindeglieder, Gruppen und Gottesdienste inspirieren und prägen. Solch ein Kirchenzentrum wäre im ursprünglichen Sinne generationsübergreifende Familienkirche.

Wenn du deine Ortsgemeinde als Kirchenzentrum Kindergarten denkst:
Was würde sich für dich und deine Kirchengemeinde verschlechtern und was verbessern? Welche Aufgaben müsstes du bewußt lassen bzw. delegieren und an wen? Welche Kompetenzen müssen neu erworben und gepflegt werden?

Wo bleibt Kirche als parochiale Vollversorgerin

und all die wichtigen Aufgaben, die in einer Spezialisierung nicht vorkommen?

Wer kümmert sich um die Aufgaben, die eine spezialisierte Ortsgemeinde nicht erfüllt? Und welche davon sind wirklich essentiell?

Die Verwaltung – ja, und die kann in Kooperation organisiert werden.

Und das Erlebnis von Gemeinschaft:
Der Gottesdienst, der muss nicht überall am Sonntag sein
Taufe – ja als Feste in der Region oder als Haustaufen zwischendurch
Abendmahl – als Nachtisch bei jedem Essen
Beerdigungen – von TrauerbegleiterInnen
Seelsorge – in Beratungstellen und durch Kontaktpflege geschulter Mitarbeitenden
KonfiUnterricht – als qualifizierte Zeit der Mitarbeit und Reflexionsgespräche
und Gruppen, Traditionen,
für all das findet Lösungen, wer bereit ist zu suchen. (Matthäus Kap. 7, Vers 7)

Und die Ressourcen also die Frage, wie wir die Einnahmen gerecht verteilen? Bislang ist das in Lippe sehr solidarisch gelöst. Alle Kirchensteuereinnahmen werden in einen großen Topf gesammelt. Daraus wird ein Drittel für übergeordnete Aufgaben unserer selbstständigen Landeskirche der Leitung anvertraut – ein Drittel für alle PfarrerInnen reserviert, die per Pfarrstellenanteilen gemäß Gemeindegliederzahl für die Ortsgemeinden zur Verfügung stehen – und ein Drittel den Ortsgemeinden ebenfalls anteilig gemäß der Gemeindegliederzahl zur freien Verfügung gestellt. (Zum Beispiel für Personal- und Gebäudekosten sowie die individuellen Arbeitsschwerpunkte.)
Dieser hohe Anteil für die parochiale Budgetierung hat die Unabhängigkeit der Ortsgemeinden ermöglicht – das war gut. Wenn aber nicht mehr genug in den großen Topf fließt, um alle Parochiegemeinden auskömmlich zu finanzieren? Dann werden die Gemeinden sich entscheiden müssen, ob sie mit dem Rasenmäher sparen oder Synergien organisieren und sich spezialisieren.

Nicht die Struktur sollte die Aufgaben vorgeben, sondern für die benötigten Aufgaben können Strukturen geschaffen werden. Die Fähigkeit zu Kooperation ist aus meiner Sicht sowohl eine hilfreiche Lösung, als auch notwendige Voraussetzung solcher Strukturen.


14. Mai 2024 Fred Niemeyer

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