Hat die Kirche einen Mehrwert?

Diese Frage ist ein etwas ungewöhnlicher Blick auf das Phänomen Kirche. Vielleicht ist die Fragestellung falsch. Aber vielleicht hilft sie auch genauer hinzusehen? Und wenn wir das tun, wie lautet die Antwort?

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Auf den ersten Blick

Menschen bilden soziale Gruppen. Das ist genetisch und in unserer Evolutionsgeschichte tief verwurzelt. Gruppen brauchen verbindende Spielregeln, die Identität stiften und bewahren. Dazu entwickeln und pflegen sie eine gemeinsame Kultur. Sie kultivieren Rituale und feiern Feste, sprechen eine gemeinsame Sprache, teilen eine Auswahl an Texten und singen aus einem gemeinsamen Liedgut. Das tun wir auch als Kirche und insofern ist Kirche auch einfach ein kulturelles Phänomen und hat einen Wert.

Menschen sind sich bewußt, dass sie ein Selbst haben (bzw. sind), dass sie leben und sterben. Sie fragen: Woher komme ich? Wer bin ich? Was wird mit mir, wenn ist sterbe? Auch diese Fragen sind tief in unserer Evolutionsgeschichte und unserem Menschsein verwurzelt. Die Rituale mit der sich Menschen der Antworten vergewissern, prägen die Religion. Auch die Religion ist ein kulturelles Phänomen. Zu ihrem Markenzeichen gehört es, über die Lebensspanne des Menschen hinauszuweisen. Diese transzendente Dimension ist der spezifische “Mehrwert” der Kirche.

Zwischenbemerkung

Wir verbinden den Begriff Mehrwert zumeist mit der Wirtschaft. Mitarbeitende einer Firma schaffen durch ihre Arbeit ein Mehr, das über den Wert der verwendeten Rohstoffe, der eingesetzten Energie und verwendeten Technik hinausgeht. Das betrifft das Wissen, das in ein Produkt hineinfließt, aber auch die Freude oder den Status, den ich durch das Produkt bekomme. Manchmal ist es sogar nur die Marke, die ein bestimmtes Image repräsentiert und eine “wertvolle” Tasche oder Jeans von einer gewöhnlichen unterscheidet.

Der Begriff Mehrwert beschränkt sich aber auch in der Wirtschaft nicht nur auf materielle Güter, sondern gilt auch für Dienstleistungen. Zu den handwerklichen Fähigkeiten und dem Erfahrungs-Wissen kommen hier menschliche Zuwendung, Unterstützung und auch Denkleistungen hinzu. Beispielsweise braucht es neben der technischen Entwicklung von Hardware zusätzlich die Software, welche die Hardware “zum Leben erweckt” und den entscheidenden Mehrwert bringt. Der beste Computer ist ohne Software nutzlos.

Der nichtmaterielle Mehrwert ist auch ein Kennzeichen in der Kunst. Der Wert eines Bildes misst sich nicht an den Kosten für Leinwand und Farben, auch nicht nur an den handwerklichen Fähigkeiten der KünstlerInnen, die einen Pinsel führen, sondern insbesonders in dem Blick auf das Leben, den zum Beispiel ein Gemälde in mir weckt.

Der Begriff Mehrwert setzt einen Wert voraus und ein Mehr, einen konkreten Beitrag, der einen weiteren und spezifischen Wert hinzufügt. Gibt es den auch in der Kirche?

Auf den zweiten Blick

Welchen Wert hat Kirche? Und welchen charakteristischen und speziellen Beitrag leistet Kirche in und für unsere Gesellschaft und mein persönliches Leben?

Früher waren die Kirchen nicht nur bestimmend für die Religion, sondern auch prägend für die Kultur. Kirche und Kulturgeschichte waren kaum zu trennen. Das ist anders geworden. Wir befürworten in den Gesellschaften, die durch die Epoche der naturwissenschaftlichen Aufklärung gegangen sind, ein hohes Maß an Freiheit und Vielfalt unterschiedlicher Normen für das Zusammenleben von Individuen und Gruppen. Teilweise wird das zwar als Überforderung wahrgenommen und manche wünschen sich eine Leitkultur und die alten Werte zurück. Aber wer gelernt hat, mit Freiheit und Vielfalt umzugehen, will nicht wieder dahinter zurück.

Tatsächlich gibt es in der Kirche schon lange eine große Vielfalt und manchmal auch Konkurrenz um die konkrete Gestalt und Kultur. Das gilt für die konfessionellen Ausprägungen als römisch-katholisch, griechisch-orthodox oder evangelisch mit all ihren Unterformen von alt-katholisch oder lateinamerikanisch-katholisch; russisch-, ukrainisch-, polnisch- oder syrisch-orthodox; lutherisch-, reformiert- oder freikirchlich-evangelisch; anglikanisch, methodistisch, pfingstlerisch, oder, oder, oder.
Und das gilt auch für die jeweilige Kirchengemeinde an einem Ort, die sich trotz ihrer theologiegeschichtlichen Grundprägung in ihrer konkreten Kultur sehr wohl unterscheiden.

Dabei prägt die Kultur eines Dorfes oder Stadtteiles und vor allem der Menschen, die sich in der Kirchengemeinde engagieren, immer die konkrete Gestalt der Kirche. Manchmal so sehr, dass ihre transzendente Dimension, die über die Lebensspanne eines Menschen hinausweist, kaum noch wahrgenommen wird.
Die Antworten einer Religion zu den existentiellen Grundfragen des Menschseins scheinen in den westlichen Gesellschaften nicht mehr glaubwürdig. Insbesondere weil der naturwissenschaftlichen Ansatz, die Welt ohne Gott zu betrachten und zu gestalten, so erfolgreich die Welt und unsere Sicht auf die Welt verändert hat.

Die Zahl der Menschen nimmt ab, die kirchlich sozialisiert sind und ihre kulturelle Prägung und Heimat in den kirchlichen Räumen und Ritualen schätzen. Für viele liegt es nahe, auf Kirche ganz zu verzichten. Verliert die Kirche damit ihren Wert und ihre Bedeutung?

Der Wert der Kirche

Kirche ist umstritten und nicht mehr das prägende Element in unserer Gesellschaft. Gleichwohl erkennen viele Menschen den Beitrag der Kirchen zum Zusammenleben als Gesellschaft an: Weihnachten und Weihnachtsoratorium, Diakonie und Nächstenliebe, die Themen Frieden und Bewahrung der Schöpfung haben im Bewusstsein vieler Menschen einen hohen Stellenwert. Das ist erfreulich und auch gut begründet. Aber reicht das?
Und noch dazu gibt es einen begründetet Widerspruch.

Widerspruch

Neben dem positiven Beitrag der Kirche zum gesellschaftlichen Zusammenhalt gibt es ja auch die Fehler, Verfehlungen und Schuld, die sich in 2000 Jahren christlicher Kirchengeschichte angehäuft haben. Wer sie benennt und beklagt, hat Recht!
Zur ehrlichen Analyse gehört aber auch, dass solche Missstände genauso in jeder atheistischen und aufgeklärten Gesellschaftsform vorkommen – sei es in nationalsozialistischen, kommunistischen oder rein kapitalisch geprägten Gesellschaften. Die Welt wird ohne Religion nicht besser. Welchen Unterschied macht dann die Kirche?

Der Mehrwert der Kirche

Die positiven wie auch negativen Wirkungen der Kirche beschreiben ihren Wert. Als gut, wo sie hilfreich ist und als schlecht, wo sie Menschen schadet. Beides betrifft aber zunächst nur ihre kulturelle Dimension. Und die ist nicht ihr Alleinstellungsmerkmal – und ich finde zum Glück. Wir leben heute nicht mehr in einer von der Kirche dominierten Gesellschaft und genau das öffnet die Chance aber auch die Notwendigkeit, nach ihrem besonderen Beitrag zu fragen.

Der wirkliche Mehrwert zeigt sich, wie eine Religion von Gott als dem Geheimnis des Universums redet, ob sie den Menschen Rituale erschließt, die über das materielle und kognitive Menschsein wirksam hinausreichen und wie sie auf die Frage nach dem Woher und Wohin antwortet.

Und es ist wiederum ein glücklicher Umstand, dass unsere Rede von Gott, unsere Rituale und unsere Antworten nicht aus einer Position der Macht oder unhinterfragbaren Selbstverständlichkeit erfolgen. Sie überzeugen nur, wenn sie überzeugen. Wir finden sie nur im Austausch auf Augenhöhe, im ehrlichen Gespräch, im achtsamen Erproben und im Vertrauen, dass in der biblischen Tradition eine wirkliche Resonanz an Gotteserfahrungen zu finden ist. Dazu braucht die Kirche mündige ChristInnen, die als Kirche zusammenkommen und leben. (So wie unsere Demokratie mündige Bürger braucht, die sie leben und für ihre Werte eintreten.)

Wir leben in einer Zeit des Umbruchs und in gewisser Weise in einer weiteren Reformation. Luther redete von den mündigen Christen, die keiner Obrigkeit untertan sind, sondern die Freiheit des Glaubens gestalten. Wir leben in einer freiheitlichen Gesellschaft, in der es auch keinen Zwang zur Zugehörigkeit einer Kirche gibt. Manchmal ist dieser Raum aber nur frei von Traditionen und nicht frei für gemeinsame Gotteserfahrungen.
Wir können aber diesen Raum der Freiheit gestalten und es obliegt unserer aller Verantwortung, wie wir diesen Raum gestalten. Jeder und jede von uns beantwortet die Frage selbst, ob und was ihr und ihm die Möglichkeit wert ist, als Kirche zusammenzukommen.

Du gibst die Antwort

Wie redest du von dem Geheimnis des Universums? Welche Rituale hast du dir erschlossen, die über das materielle und kognitive Menschsein hinausreichen? Wie antwortest du auf die Frage nach dem Woher und Wohin? Und möchtest du deine Fragen und Antworten mit anderen teilen?

Ich habe diese Gedanken formuliert im Rahmen der Winterkirche, zu der wir aus drei Nachbargemeinden zu drei gemeinsamen Gottesdiensten zusammenkommen.

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