Kirche nach Corona

Corona hat uns durchgeschüttelt. Unsicherheit, Angst, Wut sind verständliche Gefühle, aber auch Mut und Neugierde. Innehalten und Bewahren sind begründete Reaktionen, aber auch Innovation und Kreativität. Je länger der Lockdown dauert, desto mehr wollen einige endlich zurück zum Leben davor – während andere schon soweit weitergegangen sind, dass sie den neuen Weg nun auch fortsetzen wollen. Und wir als Kirche?

Rückblick

Nachdem wir zu Beginn des Jahres 2021 schmerzlich begriffen haben, dass Corona wirklich nicht einfach wieder verschwindet, macht sich jetzt zu Himmelfahrt erste Hoffnung wieder Raum, dass es doch in einigen Wochen wieder gemeinsame Treffen und Veranstaltungen ohne Abstand, Mundschutz oder allein digital geben werden könnte.

Mir ist deutlich, dass Corona uns schon jetzt nachhaltig verändert hat und weiter verändern wird. Es wird wahrscheinlich nie ein reines “nach” im Sinne von “vorbei” geben und der Titel dieser Reflexion muss genau genommen lauten: “Kirche nach den Erfahrungen mit Corona.”

Einige warten sehr darauf, dass sie endlich wieder zu den alten Ritualen und Formen zurückkehren können, wie sie Kirche bislang er- und gelebt haben. Die drängenden Fragen sind dann: “Wann können wir uns endlich wieder treffen, singen und Gottesdienst ohne Maske und Abstand feiern?
Andere sehen, dass Corona nur ein zusätzlicher Katalysator für Veränderungs­prozesse ist, die schon lange wirken und sich auswirken. Wer schon vor Corona nicht zu Gemeindeveranstaltungen und den traditionellen Gottesdiensten gekommen ist, wird es auch jetzt nicht tun. Denn das, was Kirche einst besonders und attraktiv gemacht hat, ist schon lange und zunehmend für immer weniger Menschen interessant und anziehend. Ich mache diesen Bedeutungsschwund von Kirche an den Individualisierungsprozessen in unserer Gesellschaft fest. Sie bedeuten sowohl für die Individuen als auch für Institutionen nachhaltige Herausforderungen. Die drängende Frage an die Institution lautet: “Wie können wir wieder für mehr Menschen relevant und hilfreich werden?

Manche Erfahrungen unter Corona haben uns bewußter gemacht, was relevant ist und im Alltag hilfreich. Die folgende Liste ist unvollständig und nur ein Blitzlicht, aber benennt einen neuen Blick auf die Bedeutung vom

  • Wert der Familie und Hausgemeinschaften
  • Unterstützungsangeboten zur Betreuung von Kindern, Kranken und Alten
  • Homeoffice und schnellen Datenleitungen
  • Telefon, Youtube, Social Media und Signalgruppen
  • Versandhandel
  • Wald und Garten
  • Rad- und Spazierwegen

Corona hat zudem auch unseren Blick geschärft für die Bedeutung von

  • Friseuren, Cafes und Restaurants
    und eben auch Gemeindegruppen als sozialen Treffpunkten
  • analogen Kontakten und Aktivitäten in Gemeinschaft wie
    gemeinsames Feiern, Essen, Singen
  • verbindenden Ritualen wie Sonntagsgottesdiensten, Taufe und Trauung, Konfirmation und Beerdigungen

Das sind alles keine neuen Einsichten, aber durch die Erfahrungen unter Corona sind sie spürbarer geworden. Und die Radikalität der Beschränkungen zur Eindämmung der Pandemie haben der Notwendigkeit zu Veränderungen den Boden bereitet.
Schleichende Prozesse lassen sich leichter ignorieren als drastische Einschnitte. Wenn das Vertraute nicht mehr geht, ist auch die Bereitschaft größer, etwas Neues auszuprobieren: Anstelle der gewohnheitsgespeisten Engführung: “Das war schon immer so!” kann durch die Coronaerfahrungen die Frage treten: “Und nun?” Und statt der Antwort: “Weiter so.” können wir fragen: “Was wollen und was können wir erreichen?”
Die Chance in der Krise liegt zum Beispiel darin, dass es im Neuland keine Besserwisser gibt und die Neugierigen weniger durch Argwohn blockiert werden. Das sind gute Bedingungen, um auf die Veränderungsprozesse vielfältig und flexibel zu reagieren. Darum komme ich zu der hoffnungsvollen Einschätzung: Nach den Erfahrungen mit Corona kann vieles besser werden!

Standortbestimmung

In dem Spannungsfeld von Individualisierung, die auch eine Abkehr von Institutionen mit sich bringt – und dem Bedürfnis nach Gemeinschaft, die eine Gestaltungsaufgabe an Institutionen bedeuten kann – sehe ich die Kirche als eine unterstützende Institution zur Förderung persönlicher und gemeinschaftlicher Frömmigkeit. Die Bedeutung von Kirche zeigt sich zum Beispiel als aktives Netzwerk anstelle einer Behörde. Und die Ortsgemeinde gewinnt Bedeutung als individuell geprägter Knotenpunkt anstelle einer gleichförmigen Filiale von irgendwo oben.

Das bedeutet aber nicht nur einen Wandel der kirchlichen Strukturen, die bislang in Parochien = Amtsbezirke gedacht und organisiert wird – zu einem Netzwerk von vielfältigen, unterschiedlichen aber verbundenen Gestaltungsformen. (Im Ursprungssinn ein tief reformierter Gedanke 🙂
Es bedeutet auch einen Mentalitätswandel der Christ*innen, die ihre Frömmigkeit bislang an die Amtsträger*innen delegieren, wieder hin zu aktiven Gemeindemitgliedern, die selbstbewusst ihr persönliches Christ-sein leben und den Wert von Gemeinschaften schätzen.
Das braucht dann wieder die Bereitschaft der Institution Kirche, Vielfalt und Eigeninitiative nicht nur zu dulden, sondern zu fördern.

Ich bin überzeugt: Eine Ortskirche und Landeskirche, die das tut, steht unter der Verheißung der Heiligen Geistkraft, die lebendig und kreativ, bunt und vielstimmig ist.

Mich hat der Predigttext Johannes 7, 37-39 am Sonntag Exaudi also kurz vor Pfingsten inspiriert. Jesus lädt die Menschen ein, bei ihm zu trinken. Aber nicht, um dann dort zu verharren, sondern um selbst Strom von lebendigem Wasser zu sein. Er bereitet die Menschen darauf vor, dass er gehen wird, aber verheißt jene Heilige Geistkraft, die die Menschen befähigt, selbstständig zu werden. [» Die entsprechende Predigt]

Ausblick

In unserer Kirchengemeinde in Lemgo, Lieme sind wir schon lange auf dem Weg, Veränderungsprozesse aktiv zu gestalten. Das drückt sich in Gottesdienstformen aus wie den Geburtstagsgottesdiensten und der Kinderkirche, Sommerkirche im Strandcafe ARhiBa, der Erlebnisausstellung Credoweg und der Mitarbeit im Ilsepark. Unter Corona-Beschränkungen haben wir Draußen-Gottesdienste zum Erntedank im Ilsepark und auf dem Friedhof zum Ewigkeitssonntag, Gottesdienste am Hirtenfeuer im Advent und online-gestützt zuhause an den Weihnachtstagen entwickelt und ausprobiert. Auf der Seite mitkirche.de habe ich im Januar 2021 das Konzept beschrieben, wie wir bis zum Sommer 2021 mit Online-Mitmachgottesdiensten, offener Kirche und Treffpunktgottesdiensten eine neue Vielfalt erproben und dabei auch bereit sind, manch Liebgewordenes und Vertrautes zu lassen. Mit vier Nachbargemeinden haben wir im Juli 2020 den Erprobungsraum Gemeinsamkirche gestartet, um in neuer verbindlicher Zusammenarbeit mehr Freiräume für Vielfalt zu schaffen und das Netzwerk Kirche in der Region zu knüpfen.

In unserer letzten Sitzung von unserem ehrenamtlichen Leitungsteam haben wir beschlossen, unser Gottesdienst-Konzept auch auf die Zeit über diesen Sommer hinaus weiter anzuwenden und weiter zu entwickeln.

Gottesdienste sind dabei bei weitem nicht die einzige Konkretion von Kirche. Christsein realisiert sich in vielen Situationen und an vielen Stellen im Alltag. Genau diese Vielfalt ist Willkommen. Sie kann (und soll) aber nicht von der Institution organisiert werden. Vielmehr sind es die Mitglieder selbst, die sie in die Institution hineintragen. Der Gottesdienst kann dann auch ein Treffpunkt sein, wo diese Vielfalt sichtbar wird.

All das geht nur mit Menschen, die bereit sind, Neues zu wagen und sich einzubringen. Aber so setzen wir die Segel, mit denen das Schiff, das sich Gemeinde nennt, von der Heiligen Geistraft bewegt werden kann.

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